Die Pandemie hat fast zwei Jahre lange das Denken beherrscht, langsam richtet sich die öffentliche Aufmerksamkeit wieder auf das viel umfassendere Thema, den Klimawandel – doch immer noch bleibt ein anderes, ebefalls zentral wichtiges Thema unterbelichtet: der Schwund an Biodiversität. Nun die Pandemie die Staatshaushalte belastet, scheint die Chance, hierfür Mittel einsetzen zu können, nahezu gleich Null. Was würde Massnahmen zur Stärkung der Biodiversität eigentlich wirklich kosten? Diese Frage hat sich Christoph Küffer, Professor für Siedlungsökologie an der ETH Zürich gestellt. Er macht eine grobe cost-benefit-Berechnung, was es die Schweizer kosten würde, mehr für die Biodiversität zu tun. Ergebnissse, die sich grosso modo auch auf andere Länder übertragen lassen. Wir übernehme hier einen Artikel, den er auf dem Zukunftsblog der ETH veröffentlicht hat. (Redaktion)

Biodiversitätskrise als Chance nutzen

Die Artenvielfalt schwindet. Dank eines alarmierenden Berichts des Weltbiodiversitätsrates (IPBES)1 und eindeutiger Befunde zum Insektensterben2 wächst in der Öffentlichkeit das Bewusstsein, dass unsere belebte Natur akut bedroht ist: Der Frühling verstummt zusehends3, und gerade auch in der Schweiz sind etliche Tier-​ und Pflanzenarten unter enormem Druck.4 Als wäre der Klimawandel nicht Herausforderung genug, droht uns nun auch eine Biodiversitätskrise. Die gute Nachricht: Wir können direkt vor unserer Haustür Massnahmen ergreifen und unmittelbar davon profitieren.

Unseren Lebensraum erhalten

Im Vergleich zum Klimawandel hat die Biodiversitätskrise den grossen Vorteil, dass es um unseren lokalen Lebensraum geht. Unabhängig davon, ob andere Länder mitziehen, können wir die Ökologie in der Schweiz schnell und deutlich verbessern. Das dient nicht nur den wilden Arten, sondern vor allem auch uns selbst: In Form von hoher Wasserqualität, fruchtbaren Böden und gesunden Nahrungsmitteln, erholsamen Landschaften und ökologisch begrünten Städten, die erst noch besser gegen den Klimawandel gerüstet sind.

In den Natur-​ und Landschaftsschutz investieren

In der Schweiz fliessen derzeit etwa 30 Franken pro Einwohner und Jahr an Steuergeld in den Natur-​ und Landschaftsschutz5, und unsere Naturschutzflächen sind im europäischen Vergleich sehr klein.6 Gemäss Experten reichen diese Schutzflächen bei weitem nicht aus, um die Vielfalt der heimischen Arten zu erhalten.7 Zudem braucht es deutlich mehr Mittel für die Pflege und Revitalisierung wertvoller Gebiete.8

Was ist uns die Rettung der letzten Frösche und Wildbienen wert? Was darf die Erhaltung schöner Schweizer Landschaften kosten? 100 Franken pro Einwohner und Jahr, oder 500 Franken, oder vielleicht 1000 Franken? Allein für den Verkehr bezahlen wir über 2000 Franken Steuergelder pro Kopf und Jahr.5

Rechnet man die negativen Auswirkungen des Verkehrs auf die Umwelt, Natur und Gesundheit ein – die sogenannten externen Kosten – kommen jährlich nochmal zehn Milliarden Franken dazu.9 Bei der Biodiversität hingegen sind die meisten Nebeneffekte für Mensch und Natur positiv – man nennt diese Gratis-​Gewinne Ökosystemleistungen.

Wälder, Kulturland und Flüsse revitalisieren

Dass Revitalisierungsprojekte rasch zu beachtlichen Erfolgen führen können, zeigt etwa der Auenschutzpark Aargau. 1993 hat die Aargauer Bevölkerung entschieden, ein Prozent der Kantonsfläche als Schutzpark zu revitalisieren.10 Dieses Ziel wurde inzwischen weitgehend erreicht. Der Eisvogel erhielt wieder ein Refugium, und die Aargauer prächtige Naherholungsgebiete.

Auch in Schweizer Wäldern profitieren Vogelarten von Fördermassnahmen. Dank naturnahem Waldbau mit mehr Totholz nahmen insektenfresssende Arten in den letzten Jahrzehnten wieder zu.11

Siedlungsräume lebensfreundlich gestalten

Unsere Siedlungen sind zunehmend von verbauten und versiegelten Flächen, monotonen Zierrasen und toten Schottergärten geprägt. Stattdessen liessen sich mit einfachen Massnahmen naturnahe Siedlungen gestalten, die schön fürs Auge und reich an Leben sind.12 Das käme nicht zuletzt auch unserer Gesundheit zugute. Umgeben von vielfältigen Gärten und artenreichen Grünräumen sind wir produktiver, weniger gestresst und leben länger.13

Das Schweizer Radio und Fernsehen SRF hat eine nationale Kampagne zu Biodiversität gestartet: Mission B.14 Die Aktion zeigt auf, was jede und jeder einzelne tun kann, um die Vielfalt der Natur mitten unter uns zu fördern.

Die Landwirtschaft ökologisch umbauen

Wer durchs landwirtschaftliche Mittelland streift, mag die Farben des Frühlings sehen, doch die Felder und Wiesen sind ökologisch stark verarmt4,11. Die Weltbank und die Ernährungs-​ und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen forderten bereits vor zehn Jahren in einem globalen Expertenbericht, dass es eine Trendwende hin zu einer nachhaltigen Landwirtschaft braucht.15

Der Schweizer Agrarsektor wird jedes Jahr mit mehreren Milliarden Steuergeldern unterstützt.16 Derzeit wird die neue Agrarpolitik definiert (Agrarpolitik 2022+). Als Steuerzahler können wir für eine ökologische Landwirtschaft einstehen, von der auch die Pflanzen-​ und Tierwelt profitiert.

Biodiversität als Chance nutzen

Fest steht: Machen wir weiter wie bisher, dann werden wir in den nächsten Jahrzehnten ein grosses Artensterben in der Schweiz beobachten – und live miterleben, wie unsere Lebensgrundlage immer schneller schwindet.

Wenn wir jedoch konsequent auf ökologische Landwirtschaft setzen, die Naturschutzgebiete vergrössern und Landschaften und Siedlungen ökologisch aufwerten, dann wird die Schweiz in 20 Jahren wieder eine ähnliche Artenvielfalt wie vor 50 Jahren haben. Und der Werbeslogan von Schweiz Tourismus wird dann wieder gültig sein: «Schweiz. Ganz natürlich».

Weiterführende Informationen

1 Naturwissenschaften Schweiz: Weltbiodiversitätsrat warnt vor Artensterben,und IPBES: Report

2 Naturwissenschaften Schweiz: Insektenschwund in der Schweiz und mögliche Folgen

3 Das Buch «Der stumme Frühling» von Rachel Carson prophezeite bereits 1962, dass uns der Frühling nicht mehr mit Vogelgesang und Insektensummen begrüssen wird.

Naturwissenschaften Schweiz: Zustand der Biodiversität in der Schweiz 2014

5 Biodiversitätspolitik Schweiz: Grundlagenbericht

6 Ländervergleich Biodiversität

7 Naturwissenschaften Schweiz: Flächenbedarf zur Erhaltung der Biodiversität

8 Bafu (2017): Biotope von nationaler Bedeutung

9 Bundesamt für Raumentwicklung (2019): Externe Kosten und Nutzen des Verkehrs in der Schweiz. Strassen-​, Schienen-​, Luft-​ und Schiffsverkehr 2015.

10 Auenschutzpark Aargau

11 Schweizer Brutvogelatlas

12 Zum Beispiel Bioterra oder Natur und Wirtschaft.

13 Willis, K. J., & Petrokofsky, G. (2017): The natural capital of city trees. Science, 356(6336), 374-​376.

14 SRF: Mission B

15 IAASTD (2009): Report.

16 Siehe zum Beispiel diesen NZZ-​Artikel