Amsterdam 1671–1672 Die ‚Goldene Bucht‘ der Herengracht. Gemälde von Gerrit Adriaensz. Berckheyde, Reichsmuseum Amsterdam

Über die Entwicklung Amsterdams im 17. Jh. als Paradigma blau-grüner Stadtplanng und über ein geglücktes Beispiel im heutigen Wien

Nichts scheint antiquierter in einer Zeit schneller Veränderungen als diese Überschrift. Doch das wäre Geschichtsblindheit. Wie die Geschichte Europas zeigt, waren rasante Veränderungen der Rahmenbedingungen sowohl des gesellschaftlichen als auch des persönlichen Lebens keine Seltenheit – und eine Reaktion darauf waren zuweilen zukunftsgerichtete Planungen, die mit großräumigen Eingriffen durchgesetzt wurden und die sich dann Jahrhunderte bewährten. Dabei ist der oft weit vorausschauende Blick gerade auch im Bereich Architektur, Infrastruktur und Stadtentwicklung erstaunlich. Ein beeindruckendes Beispiel hierfür ist die Stadtentwicklung von Amsterdam.

Das 17. Jh. sah Amsterdam innerhalb von 100 Jahren durch Migration um das Fünfeinhalbfache seiner Einwohnerzahl anwachsen. Es war ein Jahrhundert, das Europa in einem heute unvorstellbaren Ausmaß aufwühlte. Stichworte: der 30jährige Krieg, der Mitteleuropa verwüstete und wohl nahezu einem Drittel der Bevölkerung das Leben kostete; in den Niederlanden waren diesem langen Krieg bereits 40 Jahre Krieg in den Kämpfen um die Befreiung von Spanien vorausgegangen, hier sind die Kriegshandlungen als der 80jährige Krieg in die Geschichtsschreibung eingegangen.

Karte von Amsterdam mit dem Zustand 1612 und der bereits realisierten Befestigung für die beschlossene erste große Stadterweiterung, verfasst von Frederik de Wit, (Stadtarchiv Amsterdam)

Doch statt im Flüchtlingselend unterzugehen, hat die Stadt Amsterdam in diesem Jahrhundert nicht zuletzt dadurch eine ungekannte Blüte erlebt. Geschuldet ist dies u. a. einer weit vorausschauenden Stadtentwicklungspolitik, die Lösungen für Wohnen, Gewerbe, Verkehr und nicht zuletzt die Integration von Natur in die Stadt hervorbrachte – Lösungen, welche in Teilen auch heute noch vorbildlich sind oder besser gesagt: sein sollten.

Geradezu revolutionäre Stadtplanung im 17. Jh.

Bereits um 1600 begann man über eine Stadterweiterungsplanung nachzudenken. 1612 verabschiedete der Gemeinderat den ersten Teil eines geradezu revolutionären städtebaulichen Plans, der zusammen mit zwei weiteren, daran anschließenden Plänen die Stadtausbreitung für die nächste Jahrhunderte strukturierte – eine Planung, in Letztfassung 1662 beschlossen, an der die Stadt bis in die zweite 2. Hälfte des 19. Jh. festhielt. Um den relativ kleinen Stadtkern herum wurde ein riesiges Ausbreitungsgebiet in die umgebenden, chaotisch bebauten Vorstadtgebiete hinein entworfen. Zentral waren breite Kanäle, also die im Niederländischen sogenannten Grachten, für die Entwässerung und den Abfluss des Abwassers. Entlang der Grachten wurde einheitlich die Pflanzung von Bäumen vorgesehen – von Ulmen, die bis zum heutigen Tag ein Charakteristikum Amsterdams darstellen und zu den größten Ulmen-Beständen Europas gehören. Die Innenhöfe der Blocks sahen Lustgärten vor. Das Regenwasser hingegen wurde als Trinkwasserversorgung in Regenwasserkellern aufgefangen. 

Amsterdam mit der neuen Erweiterung, Karte von 1662 verfasst von Frederik de Wit (Stadtarchiv Amsterdam).

Für das Gebiet entlang der Grachten legte der Plan eine schmale Parzellierung fest, für die Hauptgrachten mit einer einheitlichen Gebäudebreite von 7,5–10 m (oder dem Doppelten davon) und mit 5,5 m für die Quergrachten. Festgelegt wurde auch einheitlich über das gesamte Gebiet eine zugestandene Bebauungstiefe von 30 m – dies um zu garantieren, dass die Binnenzonen der Baublöcke unbebaut erhalten blieben, lediglich ein Gartenpavillon war erlaubt. Denn die Innenzonen sollten als begrüntes Gebiet, als Lustgärten erhalten bleiben – die grüne Rekreation direkt am Haus. Betriebe waren untersagt, wenn man auch stillschweigend Nichtstörendes wie Kontore zuließ. Der so entstehende Grachtengürtel war dem luxuriösen Wohnen vorbehalten. Der Rat der Stadt, nüchtern denkende Kaufleute, formulierten drei Ziele dieser großen Stadterweiterung: Funktionalität, städtebauliche Schönheit und Rentabilität der Investitionen für die Stadt.

Detail der Planung von 1622 mit der rigorosen Parzellierung in schmale, lange Parzellen an den Haupt-Grachten, was durch die Baubeschränkung ein großes grünes Innenterrain garantiert. (Stadtarchiv Amsterdam)

Die Rechnung ging auf…

Die Rechnung ging auf: wohlhabende Kaufleute und Reeder sowie wohlhabende Flüchtlinge siedelten sich dort an. Die immensen Kosten wurden finanziert durch den Verkauf der Parzellen zu Höchstpreisen, samt der Verpflichtung für die neuen Eigentümer, die Kosten der Infrastruktur zu tragen, also das Anlegen der Grachten, die Bepflasterung der Straßen und das Anpflanzen der Bäume zu finanzieren. Die Eigentümer der Vorstadtgebiete, in die diese Planung hinein entworfen wurde, wurden für diese Stadterweiterung enteignet und ordnungsgemäß nach (Vorplanungs-)Marktwert entschädigt.

Der Beschluss und die Realisierung der Planung wurde in drei großen Etappen durchgeführt, beginnend mit der ersten Etappe im Westen. 1662 war der Plan des gesamten, so charakteristischen Halbkreises um den historischen Stadtkern beschlossen. Auch wenn jahrelang nicht alle Parzellen verkauft wurden – immer wieder musste die Stadt Rückschläge hinnehmen, so etwa durch Pestwellen, die die Einwohnerzahl dramatisch dezimierte – die Rechnung ging dennoch für die gesamte Stadt auf: während Amsterdam noch 1600 mit ca. 30.000 Einwohnern zu den vielen mittelgroßen Städte Europas zählte, war es in der 2. Hälfte des 17. Jhs. nach London und Paris zur drittgrößten Stadt in Europa angewachsen und zu einem städtebaulichen Mekka geworden – etwas, was Paris 200 Jahre später mit der rigorosen – und auch philosophisch, etwa von Walter Benjamin, hinterfragten – Planung des Baron Georges Eugène Haussmann ebenfalls gelang.

Was ist an dieser doch erstaunlichen Geschichte heute noch lehrreich?

Als erstes die hohe Dichte, die auch über die außerordentliche Bautiefe erreicht wurde. In den meisten Fällen wurde in der Mitte der zugelassenen Bebauungstiefe ein schmaler Innenhof angelegt, während in den ca. 14 m tiefen Vorderhäusern die mittig gelegenen Treppenhäuser an ihrer Rückseite eine dunkle Kammer aufweisen, die ab dem 19. Jh. oft für den Einbau von Sanitärzellen genutzt wurden. Die große Tiefe der Gebäude mit ihren schmalen Außenseiten bringt energetisch beträchtlichen Gewinn: die Gebäude haben wenig Außenfläche und wärmen sich gewissermaßen gegenseitig. Die unteren Etagen werden hinreichend belichtet durch hohe Fenster, was durch die große Geschosshöhe ermöglicht wird – auch aus heutiger Sicht noch ein Gesundheitseffekt für die Raumluft. Die Obergeschosse, die mehr Außenlicht erhalten, wurden niedriger ausgeführt.

Durch das offene Wasser des Grachtensystems und die dichte Baumbepflanzung entlang der Grachten verfügt die Stadt heute über ein einzigartiges Temperatursenkungs- und Luftreinigungssystem, das gleichzeitig die Basis für eine reiche Vogel- und Insektenwelt darstellt. Ein urbanes Biotope – eine Biotope City. Grauwasser (früher in die Grachten abgeführt) wird nun über die Kanalisation in die naheliegenden Dünen zwecks Reinigung abgeleitet. Regenwasser, das frühere Trinkwasser, das aus den Regenwasserkellern hochgepumpt wurde, kann jetzt rückwärtig in die Gärten geleitet werden. Die Verwendung von Backsteinen für die gesamte Straßenpflasterung lässt einen Teil des Regenwassers durchsickern – beides wichtige Maßnahmen, um in langen trockenen Sommerwochen den Grundwasserstand zu speisen. Auch haben sich bei heftigen, langanhaltenden Regengüssen bislang im Grachtengürtel noch nie Überschwemmungen ergeben.

Ikone des Kapitalismus und meist geplante Stadt Europas

Die Gebäude eignen sich ausgezeichnet zur Mischnutzung von Wohnen und Büros und in den Querstegen für Läden und Restaurants in den Erdgeschosszonen, in denen damals jene kleineren Leute wohnten, die sich keine bel étage leisteten konnten.

Luftansicht des Zentrums von Amsterdam, des ‚Grachtengürtels, Stadtarchiv Amsterdam

Eine Stadtplanungsgeschichte von weit vorausdenkenden Kaufleuten, Reedern und Fabrikanten, die den Gemeinderat bildetet, mit ihren Experten für Festungsbau (denn die Stadterweiterung musste in allererster Instanz durch einen Festungsgürtel gesichert werden) und Stadtarchitekten, die auf der Höhe der Architekturdiskurse seit der Antike waren und gleichzeitig den Zeitgeist erkannten. „Amsterdam war die Ikone des Kapitalismus und zugleich die am meisten geplante Stadt Europas“ schreibt der Historiker Jaap Evert Abrahamse, der dieser Planung ein volumineuses Oeuvre gewidmet hat (1).

Zieht die Stadt Amsterdam die Lehre aus ihrer eigenen Geschichte für ihre heutige Planung? Mit Bedauern muss man das verneinen. Als vor wenigen Jahren das Stadterweiterungsgebiet Sluisbuurt geplant wurde, kam ein Wirrwarr aus Hochhäusern und niedrigerer Bebauung heraus, ohne nenneswerte begrünte Außenflächen geschweige denn Gärten. Der renommierte niederländische Architekt Sjoerd Soeters legte einen Alternativ-Plan vor, eine moderne Fortsetzung des Grachtengürtels, mit viel begrüntem Freiraum, der zum Aufenthalt im Freien einlädt – mit eben solcher Bebauungsdichte wie der Plan der Stadt, doch kein Potpourri von Bauhöhen mit herausstechenden Hochhäusern (2).

Rendite als einziges Kriterium

Die Stiftung Biotope City reagierte auf diesen Entwurf hocherfreut und schlug auf dieser Basis eine Amsterdamer Biotope City vor, wie sie gerade in Wien entstanden war. Es fruchtete nicht. Das neue Quartier Sluisbuurt wird nach einem Modell gebaut, dass für einige Investoren nach erprobtem Verfahren bloß maximale Rendite erbringt, ohne die beiden anderen Kriterien der vorausschauenden Planung des 17. Jhs. zu berücksichtigen: Funktionalität für ein gesundes, rekreatives Wohnen (und, falls erwünscht häusliches oder wohnungsnahes Arbeiten), und städtebauliche Schönheit. Man könnte einen solchen Plan achselzuckend ad acta legen, wäre damit nicht eine fehlgeleitete Realität für zumindest die nächsten Jahrzehnte verbunden, die die Käufer auf dem so angespannten Wohnungsmarkt werden ausbaden müssen – und die dann vielleicht in einigen Jahr- zehnten zum Kahlschlag führen wird.

Wie es anders geht

Bleibt der Verfasserin dieser Zeilen, am Schluss noch auf eine moderne realisierte Biotope City hinzuweisen: die Biotope City Wienerberg, bezugsfertig Ende 2021, Pilot-projekt der Internationalen Bauausstellung Wien 2022, hoch verdichtet (GFZ 3,0) und gleichzeitig mit Sträuchern, Wiesen und Rasen für Spielflächen und mit so vielen Bäumen versehen, dass sie nebeneinander gepflanzt einen Wald von 2 ha ergäben.

Biotope City Wienerberg, Wien (Foto © Helga Fassbinder)

Das 5,4 ha große Gebiet, ehemals völlig durch Hallen und Parkplatz versiegelt, doch nun nur noch zu 40 % versiegelt, wurde entwickelt von 7 Bauträgern, Wohnungsbaugesellschaften, mehrheitlich im sozialen Sektor. Ihnen gelang es, die veränderten Rahmenbedingungen von Klima und Biodiversitätsverlust zum Ausgangspunkt der Planung zu nehmen und in Kooperation mit Experten, die sonst meist nicht in den Planungsprozess einbezogen werden, wie Biologen, Klimatologen, ökologische Systemplaner, sich auf einen gemeinsamen Bebauungsplanung zu verpflichten, die dem Rechnung tragen sollte: Das ‚Konzept Biotope City – die dichte Stadt als Natur‘ wurde als Ausgangspunkt festgelegt. Entstanden sind ca. 1.000 Wohnungen, davon 65 % im sozialen Sektor, 2.700 m2 Räume für Gemeinschaftseinrichtungen (Bibliothek, Küche, Kinderküche, Studios, Säle, Mobilpoint für gemeinschaftlich nutzbare Fahrzeuge und Transportmittel), Nahversorgungsgeschäfte, eine Schule, ein Kindergarten, Restaurants, Büros und ein Hotel; natürlich durchgängig Dachbegründung und, soweit es die Brandschutzverordnung zuließ, begrünte Fassaden. Auf zwei der Dächer – nota bene auf Gebäuden des sozialen Sektors – gibt es selbst Schwimmbäder. Das gesamte Gelände ist autofrei, Garagen liegen unter den Gebäuden, was tiefe Erdkerne für die Bäume, die 30 m hoch werden können, im Freiraum zulässt. Alles Regenwasser wird auf dem Gelände zurückgehalten, für langen Starkregen gibt es einen Teich als Überlaufauffang (3).

Biotope City Wienerberg, autofreier Freiraum zwischen den Gebäuden  (Fotos © Helga Fassbinder)

Verbesserungswürdiges

Wie immer bei realisierten Planungen ist einiges im Hinblick auf Folgeprojekte verbesserungswürdig, so die Verwendung von zu viel geschlossenen Asphaltflächen, die eingesparten offenen Wasserläufe und die ausschließliche Verwendung von Beton in der Architektur. Der Erfolg dieser Planung lässt sich aber daran ablesen, dass nicht nur die Bewohner die grünen Freiräume ausgiebig nutzen, sondern dass auch im Umfeld Wohnende mit ihrem Kindern dort ihre Freizeit verbringen, wohlgemerkt in einem Quartier der GFZ 3,0 – und dies, obwohl ein Park direkt an das Quartier angrenzt und man in kurzer Entfernung in den Wienerwald hinein spazieren kann. 

Biotope City Wienerberg, Fassadenbegrünung konform der Brandschutzverordnung Wiens (Foto © Helga Fassbinder)

Literatur:

  1. [1]  Jaap Evert Abrahamse, De grote uitleg van Amsterdam, Bussum 2010, S. 115
  2. [2]  https://pphp.nl/ project/sluisbuurt-amsterdam/
  3. [3]  die Broschüre: ‚Hidden Treasures – Unsichtbare Bausteine einer nachhaltigen Stadt‘ stellt die Maßnahmen dar, die bei der Besichtigungdes Quartier nicht sichtbar sind, aber wesentliche Bestandteile des Funktionierens bilden, und ‚Bio- tope City – Bauanleitung für eine klimaresiliente, grüne und naturinklusive Stadt‘, Hidden Treasures – Unsichtbare Bau-steine einer nachhaltigen Stadt‘ https://biotope-city.net/
  4. Biotope City – Bauanleitung für eine klimaresiliente, grüne und naturinklusive Stadt‘ https://biotope-city.net/wienerberg-bauanleitung-biotope-city/

Dieser Aufsatz ist zuerst erschienen im: Verlag Ernst & Sohn, Special 2024 – Regenwasser-Management, Berlin April 2024. Dank an die Redaktion für die Genehmigung der Veröffentlichung!