Wie kann eine maßgeschneiderte grüne Infrastruktur für neue Siedlungserweiterungen entworfen und umgesetzt werden? Dieser Artikel zeigt, wie mit einem multifunktionellen und interdisziplinären Planungsansatz ein Siedlungsgebiet der Stadt St.Pölten, das den Namen „Eisberg“ trägt, trotz Klimawandel wachsen kann.
Die Stadtregion St.Pölten
Die neuntgrößte Stadt Österreichs liegt im Traisental und ist seit 35 Jahren die Landeshauptstadt des größten Bundeslandes Niederösterreich, mit einer Einwohner*innenzahl von ca. 56.000. In dieser Mittelstadt-Region ca. 60 km westlich von Wien leben über 85.000 im direkten Einzugsgebiet (18 Umlandgemeinden). Gemeinsam mit der nördlich angrenzenden Kleinstadt-Region Krems sind es über 130.000 Einwohner*innen. Das Stadtgebiet umfasst 108,44 km², ca. ein Viertel von Wien, ist somit deutlich größer als jenes der zweit- bis viertgrößten Städte (Graz, Linz, Salzburg, Innsbruck) und zeigt in weiten Teilen ein ländliches Erscheinungsbild. Als Verwaltungszentrum des Bundeslandes ist die Zahl der Erwerbstätigen mit über 51.000 Personen fast so groß, wie die, der Einwohner*innen.
Grünraumplanung für St.Pölten
Die rasche Stadtentwicklung Ende des 19. Jahrhunderts brachte mit sich, dass bereits 1887 ein, aus einem Wettbewerb hervorgegangener, Regulierungsplan rechtskräftig wurde. Vorerst zwar noch ohne eigene Grünraumplanung, doch mit der steigenden zentralörtlichen Bedeutung wurde auch diese relevant. 1928 wies das Stadtbauamt auf die Notwendigkeit der zielgerichteten Sicherung von Grünflächen hin. Begründet wurde der eigens entwickelte Grünzonenplan damals mit den Bedürfnissen der Stadtbewohner nach Erholung und Ernährung. Erst 53 Jahre später führte die Stadtplanung dieses Konzept weiter, 1990 folgte ein eigenes, von der Technischen Universität Wien erarbeitetes, digitales Landschafts- und Grünraumkonzept. Schließlich konnte 2010 auf Grundlage des Niederösterreichischen Raumordnungsgesetzes ein „Landschaftskonzept“ völlig neu erstellt werden, mit einem für St.Pölten spezifischen System der „Grünen Adern“ (Büro land.schafft©). Nach Beschluss durch den Gemeinderat folgte die Übernahme aller Punkte in das Integrierte Stadtentwicklungskonzept (ISEK 2016 – Stadtplanung & Emrich Consulting ZT GmbH).
Der Eisberg
Das ca. 85 ha große Stadtentwicklungsgebiet unmittelbar westlich des St. Pöltener Stadtwaldes und das daran nördlich anschließende ca. 110 ha große Stadterweiterungsgebiet Eisberg West wurden in den letzten zehn Jahren in mehreren Schritten städtebaulich, vom Großen ins Kleine integrativ bearbeitet. Nach dem Landschaftskonzept 2010 folgte 2012 ein eigenes Grünraum-Entwicklungskonzept als detaillierte Grundlage für das Stadtentwicklungskonzept. 2016 konnten im Rahmen einer Lehrveranstaltung der Universität für Bodenkultur („embedding green infrastructure @ stadt.wald.eis.berg.west“ Institut für Ingenieurbiologie und Landschaftsbau) ausgewählte Aspekte zur Detailgestaltung der Frei- und Grünraume konzeptiv bearbeitet werden. 2017 brachte ein interdisziplinärer Planungs-Workshop auf städtebaulicher Ebene Entwicklungslösungen für das gesamte Gebiet, ausgehend vom Grünraumkonzept als Klammer. Denn, um den Eisberg „besiedeln“ zu können, eine Bebauung zu ermöglichen und die Freiräume nutzbar zu machen, muss die Landschaft so umgestaltet werden, dass Wiesenflächen, Wald- und Windschutzgürtel Wind und Wasser zurückzuhalten. Die Oberflächenabflüsse müssen über Muldensysteme geleitet, in großen Rückhaltebecken gespeichert und langsam wieder abgegeben werden. 2019 wurde der erste Teilbereich aufgeschlossen, die Bebauung ist seitdem im Gange. Dazu war es notwendig ein entsprechende Grünraumplanung fortzuführen und baulich umzusetzen.
Grüne Infrastruktur für den Eisberg
Eine grüne (und gleichzeitig blaue) Infrastruktur ist Voraussetzung für jede Siedlungsentwicklung am Eisberg und wird dafür in einem großen, vielfältig nutzbaren Naherholungsgebiet zusammengeführt. Im „Stadtwald West“ wird als linienförmige Erweiterung des Kaiserwaldes ein mindestens 100 m breiter und insgesamt ca. 1,5 km langer Waldgürtel nach Westen gezogen, begleitet von offenen Flächen aus Wiesen, trockenfallenden Gerinnen, Boden- und Windschutz-Hecken, Baumzeilen und Alleen sowie großen Rückhaltebecken. Langfristig soll so der gesamte Eisberg bis nach Norden hin zur Bahntrasse U-förmig umfasst werden. Dieses Mega-Projekt der Landschaftsumgestaltung hat im Oktober 2020 mit dem Bau des ersten Rückhaltebeckens entlang der Kunrathstraße begonnen, das als multifunktionell nutzbarer Grünraum Teil des ersten Abschnittes Stadtwald West wird, auf insgesamt ca. 10 ha. Die dabei für den Bau der blauen Infrastruktur anfallenden, großen Aushubmassen mussten um möglichst wenig transportiert zu werden im Massenausgleich großteils gleich im künftigen Naherholungsgebiet untergebracht und für eine vielfältige Nutzung modelliert werden. So soll die geplante grüne Infrastruktur als multifunktionell nutzbare Fortsetzung des historischen Stadtwaldes auch die blaue integrieren, so dass eine zusammenhängende, zeitgenössische, klimawandel-angepasste Stadtlandschaft entsteht.
Praktische und symbolische Aspekte des Konzeptes zur Klimawandelanpassung
Diese nachhaltige Stadtentwicklung gegen den Klimawandel folgt der gestalterischen Leitidee vom „schmelzenden Eisberg“. Mithilfe des Aushubes für das Becken, wurde ein tatsächlicher, kleiner Eisberg aufgetürmt, von einem Pavillon als Spitze gekrönt, der 17,5 m über das Eisberg-Zungenbecken ragt, in das der Eisberg symbolisch über Eisbergschollen, terrassenförmig in die Eisberg-Au und den Eisteich hinab schmilzt. Gleich daneben bildet das Eisberg-Forum den Abdruck eines bereits geschmolzenen Eisberges – eine schüsselförmige, windgeschützte Hohlform mit zentraler Kleinspielfeld-Fläche (26 x 44 m), von einer flachen Wiesenböschung für Zuschauer*innen amphietheaterartig umfasst.
Von der Waldstraße im Norden kommend mündet darin die Eisberg-Allee, die das Gebiet schützend nach Westen abschirmt. Sie wird begleitet von einem Fanggaben und einer Bodenschutzhecke, so dass zum Zungenbecken hin ein geschützter Motorikpark, und am Fuße des Eisberges, ein kleines Outdoor- Kletterzentrum mit Boulderfelsen am Forum angelegt werden kann. L-förmig nach Westen zweigt die Eisberg-Promenade ab, die den Eisberg-Wald und dessen vorgelagerten Stadtwald-Saum nach Norden zum künftigem Siedlungsgebiet abschließt, begleitet vom Stadtwald-Wadi, einem zeitweise wasserführenden Entwässerungsgraben der in das Zungenbecken fließt, dort in zwei Teilen die zungenförmige Eisberg-Au umgrenzt. Mithilfe der Massenausgleich-Geländemodellierungen und nach Flächen diversifizierter Bepflanzung wurde eine stark strukturierte Mikro-Landschaft geschaffen, die zu vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten anregt und viele Teilräume anbietet.
Das Erscheinungsbild ändert sich nicht nur jahres- und tageszeitlich, sondern auch mit der temporären -Füllung des Wasserbeckens und des Wadis, je nach Witterungsverlauf. Das neue Naherholungsgebiet bietet kilometerlange Spazier-, Walk-, Lauf-Wege, Trails auf den Eisberg, „kleinen“ Wintersport auf den unterschiedlich geneigten Abhängen, Mannschaftssport in der Arena des Eisberg-Forums, geschützte Mulden zum Sonnen, Ausspannen oder Zusehen, frei nutzbare Rasenflächen auf den Eisberg-Schollen, ein Spielfeld im Stadtwald-Saum und bewusst offen gehaltene Zonen, die noch unbekannte, künftige Freizeitsportarten und -ideen ermöglichen. Der „Gipfel“ des Eisberges wird von einem (Stahl-)Pavillon gebildet, dessen Dach die Bergform fortsetzt und in einer Blitzableiter-Spitze abschließt, die exakt 310,0 m erreicht. 3100 ist die Postleitzahl von St.Pölten. Sie wird ein zentraler, hoch gelegener Aussichts- und Treffpunkt im neuen Stadtwald West. Eine Windrose mit Inschrift im Boden weist auf die Nähe/Distanz zum Nord-/Südpol hin.
Vorläufiges Resümee
Stadtentwicklung bedarf immer einer entsprechend langfristigen, integrativen möglichst interdisziplinären Masterplanung, um bestehende und neue Stadtgebiete nachhaltig (weiter-)entwickeln zu können – insbesondere zur Umsetzung von Klimawandel-Anpassungsstrategien. Am Eisberg in St. Pölten könnte diese Anpassung mithilfe eines praktischen und symbolischen Gestaltungskonzeptes tatsächlich schrittweise umgesetzt werden. 2022 wurde der erste Bau-Abschnitt der Umgestaltung dieser Landschaft mit neuer grüner und blauer Infrastruktur für alle Stadtbewohner*innen eröffnet. Der „Reifungs-Prozess“ dieser neuen Grünräume wird noch viele Jahre dauern, doch ist damit ein beispielhafter Grundstein gelegt worden, wie Stadtentwicklung künftig aussehen wird: integrativ, inter-/multidisziplinär geplant und umgesetzt, zur Entwicklung einer grünen und blauen Infrastruktur vor der eigentlichen Bebauung.
Das Beispiel zeigt, wie Stadtentwicklung aus dem Blickwinkel Grüner Infrastruktur heraus und auf diese aufbauend, gelingen und das urbane Leben St.Pöltens in den Grünen Adern pulsieren kann.
(Die Bild- und Fotorechte liegen bei DI Dr. Alfred Benesch oder Stadt St. Pölten mit freundlicher Überlassung für diesen Artikel)