WILDPARK CITY
Helga Fassbinder
Die Formel “Die Stadt als Natur” fordert eine Definition dessen heraus, was unter Natur zu verstehen ist. Wo setzt man an? Was rechnet man dazu? Die Frage ist brisant, besonders unter Biologen, aber auch bei gewöhnlichen Sterblichen: wenn es ‚die Natur‘ zu retten gilt, welche ist gemeint? Die im Zustand vor 100 Jahren? Oder soll man noch weiter zurück greifen? Dürfen auf den westfrisieschen Inseln Bäume wachsen, die dort vor 100 Jahren nicht zu finden waren? Was ist mit den Neophyten, den pflanzlichen Exoten wie dem indischen Springkraut, dem Staudenknöterich oder dem Riesenbärenklau, oder mit den tierischen Eindringlingen, den Nilgänsen, den Waschbären u.a. Und welche Rolle spielt der Mensch in diesem Konzert, der ja so wirklungsvoll eingreift in die ‚Natur‘? Auch da laufen die Ideen weit auseinander, man kann ja auf unterschiedliche Weise über das philosophieren, was der Mensch ist: Die Krone der Schöpfung, dessen Auftrag es ist, sich die Erde, also die Natur, untertan zu machen. Oder ein Krebsgeschwür, das die Erde überwuchert und den Lebensraum so wunderbarer Tiere wie des sibirischen Tigers und anderer zerstört und sein eigenes Ökosystem gegen die ‚Natur‘ der Erde errichtet. Aber man kann auch in der sich stets weiter ausbreitenden Wirbeltiersorte homo sapiens eines der Elemente des stetigen Veränderungsprozesses von Organischem und Anorganischen auf der Erde sehen.
Aus letzterer Haltung heraus stellt sich die Frage nicht als “Wie kann man die bedrohte Natur retten und die Expansion und Aneignung des Menschen stoppen”, sondern fragt man: “Wie können wir den Lebensraum des Menschen so einrichten und regulieren, dass er in einem Zusammenspiel mit anderen Arten von Leben so gut und gesund wie möglich die ihm als Individuum jeweils zugemessene Zeit verbringen kann“.
Mit dieser Frage sind wir beim Städtebau. Denn um 2050 werden mit allergrösster Wahrscheinlichkeit nach rund 10 Milliarden Menschen diesen Erdball bevölkern, von denen dann über 70% in Städten leben werden.
Doch was ist das, dieser städtische Lebensraum?
Der niederländische Biologe Jelle Reumer, Direktor des Rotterdamer Naturhistorischen Museums, nennt es einen Wildpark. Er hat ein lesenswertes Buch geschrieben zu dieser Frage, dessen einziges Manko sein Titel ist: er scheint sich auf ‚Rotterdam‘ einzuschränken. Doch dem ist nicht so. Er behandelt umfassend aus einem großen Abstand, der Zeit und Raum umfasst, das Phänomen Mensch und sein Verhältnis zu der sich stetig verändernden Natur.
Er startet seine Reflexionen mit der Beobachtung, dass Vögel in der Stadt ihre Nester zur Aufzucht ihrer Jungen nicht mit den Materialien bauen, die in unserer Vorstellung ’natürlicherweise‘ dazu benutzt werden müssten: mit dürren Zweigen, Blättern, Federn. Er beobachtete, dass sie zum Nestbau verwenden, was sie eben in der Stadt vorfinden: Plastik, Draht, Styropor – Materialien, die teilweise ihren Dienst selbst besser tun. Vor einigen Jahren hat Sema Bekiroviç eine beeindruckende Fotoreportage über solche Nester gemacht: sie hat die Nester von Blesshühnern in den Grachten von Amsterdam fotografiert – BIOTOPE CITY JOURNAL hat ihre Fotos damals publiziert. Jelle Reumer bringt Fotos eines mit Plastik bestückten Nests eines urbanen Schwans sowie drahtdurchwirkte Krähennester. Von Verdrängung kann hier keine Rede sein.
Was der Mensch mit der grossen Stadt geschaffen hat, ist ganz offensichtlich ein neues, ihm angepasstes, ein ‚andropogenes‘ Ökosystem. Freilich ein Ökosystem, in dem sich nur eine Selektion von Sorten der gesamten Flora und Fauna eingenistet hat, Sorten, die mit den durch die Menschen geschaffenen baulichen Voraussetzungen umgehen können. Also nicht die Tiger und Luchse, nicht die Haubenlerchen und die Rohrdommeln, sondern solche Sorten, die in den weitgehend kahlen Städten Felslandschaften sehen, in die hinein sie ihr Siedlungsgebiet erweitern können. Die Felsentauben haben das getan, die Möwen, die Krähen u.a.
Erkenntnisse entstehen, wenn man das Blickfeld erweitert, wenn man die Sache oder das Problem aus größerem Abstand betrachtet und die grossen Zusammenhänge erkennt. Was das Buch von Jelle Reumer so spannend macht, ist der grosse Zeithorizont, unter dem er die Welt, so wie wir sie hic et nunc erleben, betrachtet: Er skizziert eine Entwicklungsgeschichte von Milliarden von Jahren. Das was wir Heutigen als ‚Natur‘ in unserer inneren Vorstellungswelt pflegen, ist in Wirklichkeit ein Kette von sich stets verändernden Ökosystemen, in denen auch das sich grassierend ausbreitende Ökosystem ‚Stadt‘ wohl nur ein Intermezzo in den weiteren Milliarden Jahren der Zukunft der Erde sein wird.
Dieses Ökosystem Stadt ist für die Flora und Fauna, die sich hier eingenistet haben (und unter sich verändernden klimatischen Bedingungen neu einnisten werden) genau so Wildnis, wie es die Wildnis ausserhalb der Stadt war und ist. Manche Tiere sind dem Menschen schon frühzeitig in seine Behausungen nachgefolgt: der Hund, die Hausmaus, der Sperling, die Katze. Sie haben sich angepasst. Aber auch die neueren Immigranten passen sich an – die Amsel, die ich in meiner Kindheit nur als Waldvogel kannte, sucht nun schon an den Wurzeln der Bäume in den Amsterdamer Grachten nach Insekten und Würmern; der früher scheue Reiher jagt von den Kaimauern aus; andere Sorten haben sich ganz auf unseren Abfall spezialisiert, so die Krähen und Stadttauben, die schon tagsüber unsere essbaren Reste aufräumen und kaum noch etwas den nächtlichen Ratten übrig lassen…. Aber auch wir, als homo sapiens, aus der Savanne kommend, haben uns diesem Ökosystem Stadt so angepasst, dass Jelle Reumer davon spricht, dass der homo sapiens sich zum homo urbanus wandelt (s. hierzu seinen Essay auf BCJ ‚Homo urbanus – der Mensch unserer verstädterten Zukunft‘). In die Savanne ausgesetzt, sagt er, wären wir keine 10 Tage überlebensfähig. Tatsächlich haben Untersuchungen gezeigt, dass ‚den Stadtkindern die Sinne schwinden‘: sie sehen schlechter, ihre Bewegungsfähigkeit und ihr Geruchsinn haben abgenommen, und dies schon im Vergleich zu Kindern von zwei Generationen zuvor.
Der Natur ist es gleichgültig, ob die Veränderungen menschengemacht sind oder ein natürlicher Vorgang, ein Sturm, ein Erdrutsch o.a. sie hervorgebracht haben. In ihrer unerschöpflichen Anpassungsfähigkeit passt sie sich an. “Qua Auswirkungen ist ein durch einen Sturm umgewehter Baum nicht weniger einschneidend als das menschliche Eingreifen durch einen Bagger” (Jelle Reumer, Wildlife in Rotterdam). Immer noch bleibt der durch unsere baulichen Massnahmen verwüstete Ort Naturgebiet, freilich in veränderter Gestalt. Doch hat unser menschliches Eingreifen mit dem Bau von Städten Folgen für die Lebensbedingungen nicht allein von Flora und Fauna, sondern auch von uns, den menschlichen Verursachern und Nutznießern selbst. Dem gilt es nachzuforschen.
Um verständlich zu machen, was die Stadt als Naturgebiet bedeutet, kommt Reumer mit einem sehr drastischen Vergleich: an den Ufern des Flüsschens Rotte befindet sich irgendwo in den Bäumen eine Kolonie von Kormoranen. Diese Bäume sind vollständig überladen mit unzähligen Nestern. Er schreibt: “Es bietet sich ein geradezu apokalyptischer Anblick…. die Bäume sind fast gänzlich abgestorben und völlig weiß von Kot, der überall in dicken Lagen auf ihnen festgebacken ist; jede Art von Wachstum am Fuss der Bäume ist verschwunden. So sieht es aus, wenn eine einzige Tierart, in diesem Fall die Kormorane, in einem Gebiet dominant vorhanden sind. Sie füllt das Gebiet mit ihren Nestern und beschmutzt ungehemmt die ganze Umgebung, wodurch viele andere Arten von Tieren und Pflanzen sich nicht mehr heimisch fühlen und verschwinden.”
Nun lese man diese Sätze nun noch einmal, schreibt er, und ersetze das Wort ‚Kormoran‘ durch ‚Mensch‘: “Das ist nun die beinahe perfekte Definition von Stadt! Eine aufeinandergepackte Ansammlung von Menschennestern, besser bekannt als Gebäuden, mit ziemlich wenig Raum für andere Sorten und meist auch ziemlich verschmutzt”.
Es ist ein beeindruckender Vergleich. Ein Vergleich, der uns vor Augen führt, was unser Problem mit unseren dichten Städten ist: wir zerstören die Lebensbedingungen vieler Sorten und letztendlich auch die von uns selbst.
Wenn wir dem Einhalt gebieten wollen, dann nicht wegen einer angeblichen Naturzerstörung. “Die Stadt verdringt die Natur nicht. Sie lässt sich nicht verdrängen. Natur ist eine Aufeinanderfolge von Ökosystemen; es ist darum unsinnig, das eine Ökosystem höher einzuschätzen als das andere”. Wir müssen dem Einhalt gebieten wegen uns selbst: zur Sicherung unserer eigenen Lebensbedingungen.
Doch wie können wir das bewerkstelligen?
Die Alternative kann nicht die alte Gartenstadt sein. Die erfolgreiche Spezies Mensch vermehrt sich in solcher Zahl und mit solch massenhaftem Zustrom in die Städte, dass ein ‚zurück zur Natur‘ im Sinne von Landleben nichts anderes als eine romantische, weltfremde Antwort wäre. Der vom homo sapiens zum homo urbanus mutierende Mensch muss in den dichten Städten einen modus vivendi entwickeln, der ihm und einer reichen Flora und Fauna gemeinsam ein Überleben sichert. Er muss den modus einer win-win-Situation finden: die dichte und gleichzeitig grüne Stadt, Biotope City! Die Verwendung von nachhaltigen, emissionsfreien Baumaterialien, die Anlage von Wasserläufen, begrünten Dächern, begrünten Fassadenn, Pocketparks, Minigärtchen auf Verkehrsinseln und sonstigen Restflächen, Bäumen entlang der Strassen, wo immer nur möglich, nötigenfalls Sträuchern in grossen Containern und last not least reichlich Blumen in Fenster- und Balkonkästen für Bienen: Das alles ist nicht nur optisch schön, sondern auch Garant für gute Luft, erträgliche Temperaturen und Feuchtigkeitswerte, verringerte Wassermassen der Abflusskanalisation, und nicht zu vergessen ausgeglichenere Gemütszustände – und eine reiche Flora und Fauna hat ebenso ihren Nutzen davon wie wir. Architektur und Städtebau beginnen sich langsam darauf einzurichten, langsam, aber doch, es hat begonnen…
Jelle Reumer, Wilflife in Rotterdam – Nature in the City. Naturhistorisches Museum Rotterdam ISBN 978-90-7342-400-5
Photos: Sema Bekiroviç, Helga Fassbinder, Anneloes Groot, Sabine Schütte