NUR RETROSPEKTIVE NACH 50 JAHREN ODER ERNEUTE AKTUALITÄT ?

Das Kooperationsseminar COOP an der Architekturfakultät der TU Berlin und die Stadtteilarbeit der Studierenden in Berlin Kreuzberg

Helga Fassbinder

Zu: NinaGribat, Philipp Misselwitz, Matthias Görlich (Hg.)’Vergessene Schulen. Architekturlehre zwischen Reform und Revolte um 1968′.

Das Neue im Städtebau begann in den Jahren um 1968 – und mündet nunmehr 50 Jahre später in das Konzept Biotope City… Nina Gribat e.a. haben ein Buch mit zahlreichen Interviews mit Zeitzeugen und Dokumenten aus der damaligen Zeit veröffentlicht. Helga Fassbinder hat bei der Präsentation des Buchs auf den erneuten Umbruch in Architektur und Städtebau hingewiesen, von denen die Realisierung einer ersten Biotope City in Wien einen markanten Anfang bedeutet. (Red.)

DAMALS vor 50 Jahren – was war der Anlass?

Die deutsche Nachkriegsordnung mit ihren hierarchischen Verhältnissen in Hochschulen und Architektur-Bureaus und die in Mehrheit öden architektonisch-städtebaulichen Produkte der Nachkriegsmoderne waren uns, den Studierenden an Architekturfakultäten, in den Jahren vor ’68 immer fragwürdiger geworden. In der Lehre dominierten unter den Entwurfsaufgaben abgehobene Themen wie ‘Das Haus des Künstlers am See’ – ein Widerspruch zur Alltagsrealität, der im Klima der erwachenden gesellschaftspolitischen Kritik der 60er Jahre auch Architekturstudenten nicht unberührt lassen konnte.

Bei Studierenden an der Architekturfakultät der TU Berlin regte sich denn auch Widerstand gegen die Inhalte der Lehre und die starre hierarchische Organisationsstruktur des Lehrbetriebs. Am Stadtrand begann soeben der Bau des Märkischem Viertels, eine mit blumigen verbalen Anpreisungen umgebene monostrukturelle Ansammlung von Kaninchenställen für Menschen, während in den dicht bebauten Arbeitervierteln die Mietskasernen mit ihren Hinterhöfen auf Substandardniveau dahin moderten. Zunehmend wurde für uns die Diskrepanz zwischen den ‘Schlafstädten’ des technisch ach so perfekten Massenwohnungsbau der 50er und 60er Jahre und der Lebensrealität in den alten Stadtteilen des 19. Jahrhunderts mit ihren komplex vernetzten sozialen Strukturen und ihrer vielfältigen infrastrukturellen Ausstattung fühlbar und sichtbar.

Zwei unbesetzte Lehrstühle, der von Prof. Oswald Ungers, der gerade in die USA berufen worden war, und der des emeritierten Prof. Bernhard Hermkes, sowie der Umstand, dass einige aufgeschlossene, junge Mitarbeiter diese Lehrstühle verwalteten, geben Raum für eine Selbstorganisation der Lehre durch Mitarbeiter und Studierende. Es entstand das grosse Kooperationsseminar beider Lehrstühle, das COOP. In langen Sitzungen mit engagierten, hitzigen Diskussionen wurden Themen verortet, durch die man eine klarere Sicht auf das, was sich im Planungs- und Bauwesen tatsächlich abspielte, zu erhalten hoffte. Ein Katalog von 18 Themen für Arbeitsgruppen, die sich zu diesen Themen bildeten, spricht Bände: er reicht von Infrastruktur über Bildung, technologische Innovation bis zu Jugend&Freizeit, Familienstruktur &Wohnen und zur Ökonomie. Es ging um Entdeckung von Interessen und Vermachtung
hinter Schlagwörtern und ideologieträchtigen Architektur-Moden. Bei näherem Hinsehen zeigte die Berliner Baupraxis ihre Gefühllosigkeit gegenüber menschlichen Lebensbedürfnissen. Der geplante Kahlschlag der alten Arbeiterviertel mit ihren gewachsenen sozialen Strukturen, der in einer ersten Untat von Abriss eines Blocks in Kreuzberg sichtbar wurde, und der Plan der groß angelegten Umsiedlung der Bewohner in eine gigantische Neubaustruktur am Stadtrand, in das zukünftige Märkische Viertel, wurde von uns Studenten als Zynismus empfunden: Hier sollte einer auf Neubau spezialisierten Bauwirtschaft Nachfrage verschafft werden. Unsere spontane, intuitive Reaktion war: Verhinderung!

Aber wie? Als erstes musste da der Auszug aus der Hochschule nach Kreuzberg vollzogen werden: Dort untersuchen, was Sache ist – und nach Verbündeten im Kampf gegen den Abriss Umschau halten. Das hätten ja naturgemäss die Bewohner sein müssen, die ‚Betroffenen’, wie man sie im damaligen Jargon nannte, ein Begriff, der noch ganz die passive Haltung von Bewohnern/Bürgern illustriert. Die Bewohner aber wussten noch gar nichts von ihrem Glück oder Unglück und wollten es auch gar nicht glauben. Die erste Aufgabe für uns, ein kleines Grüppchen Studierender, die wir die Architekturfakultät gegen Kreuzberg vertauscht hatten, bestand daher in Aufklärung und Bestandsaufnahme. Die Bewohner und Nutzer von Gebäuden und gebauten Strukturen zu aktiv Handelnden zu machen, also vom Objekt zum Subjekt der Planung – das war das erste neue Aktionsfeld für uns. Und dazu mussten wir natürlich auch dort unsere Niederlassung haben, einen Laden mieten als Treffpunkt, und dort auch wohnen. Der nächste Schritt nach und neben der Aufklärung war dann der zu einer alternativen Planung, zu einer ‘Gegenplanung’, die Modernisierung zum Inhalt hatte.

Tatsächlich hatten wir mit unserer Aufklärung über die Kahlschlagsabsichten des Senats in Kreuzberg keine grossen Effekte zu verzeichnen. Die Bewohner wollten uns einfach nicht glauben, was wir da erzählten – „das werden die doch nicht mit uns machen!“ war die gängige Reaktion. Wenn sie dann den Brief der Kündigung des Mietverhältnisses zwecks Abrisses schwarz auf weiss im Briefkasten fanden, verliess sie der Mut. Verzweifelt akzeptierten sie das Umzugsangebot ins Märkische Viertel oder suchten selber irgendwo in einem anderen Sanierungserwartungsgebiet eine Unterkunft.

Unsere Aktivierung von Bewohnern war also nicht gerade von Erfolg gekrönt, doch langfristig war sie das schon! Wir haben „Bürgerbeteiligung“ zu einem Item gemacht. Es war wohl das erste Mal in Deutschland, wo so etwas thematisiert wurde. Ein ‘68er‘- Verdienst also…

Damals aber wurde das Ansinnen einer Bürgerbeteiligung von offizieller Seite schwer verteufelt und aus allen Rohren auf uns geschossen. Inzwischen, 50 Jahre danach, ist Bürgerbeteiligung auf allen Ebenen der Planungsverfahren verankert und verpflichtend festgeschrieben. Die Partizipation der Bürger ist zu einem Planungsinstrument geworden – und ebenso sind inzwischen die nötigen Manipulationsmechanismen entwickelt, wie man von offizieller Seite vordergründig und hintergründig mit dieser Verpflichtung umgeht. Eine vielschichtige Angelegenheit mit mehreren Seiten… 1970 habe ich in einem Kursbuch zum Thema ‘Planen/Bauen/Wohnen’, das von Hans Magnus Enzensberger herausgegeben wurde, einen allerersten Artikel zu ‚Bürgerinitiativen‘ veröffentlicht, der in der Folge viel zitiert wurde. Schon in diesem Text ist, bei aller Begeisterung, auch meine Warnung vor einem möglichen Nimby- Effekt nachzulesen: not in my backyard! Denn die besser ausgebildeten Bürger sind allemal besser in der Lage, ihre Interessen zu schützen und können sich damit auch quer stellen zu einem wohlverstandenen und gerechtfertigten Allgemeininteresse. Ein Phänomen, das heute an manchen Orten zu beobachten ist und nicht selten zu einem traurigen Hindernis einer vernünftigen Planung wird.

Verknüpfung von Stadtteilarbeit mit Hochschule auf zwei Ebenen.

Zwar hat damals nur ein kleiner Teil der Studierenden der Oberstufe die Hochschule verlassen, um in Kreuzberg in einem angemieteten Raum ganz konkret eine auf Modernisierung der Gebäude gerichtete praktische Tätigkeit zu entfalten – brav hatten wir es ‚Büro für Stadtsanierung und Soziale Arbeit‘ tituliert. Dennoch waren diese Aktivitäten durchaus mit dem Studium in der Hochschule verknüpft. Eine Gegenplanung zur Kahlschlagsplanung des Senats bedurfte ja konkreter architektonischer Entwürfe. Statt des berühmt-berüchtigten Entwurfsthemas “Hauses
des Künstlers am See’ wurde so zeitweilig die Modernisierung der Mietskasernen des ausgehenden 19.Jahrhunderts in Kreuzberg zum leitenden Thema an der Architekturfakultät. Das führte zu einer Ausstellung der Entwürfe der Studierenden unter freiem Himmel auf dem Kreuzberger Oranienplatz. Dort hingen dann unsere Pläne in Plastikhüllen eingepackt an Wäscheleinen, um den KreuzbergerInnen vorzuführen, dass gute Wohnbedingungen auch in den Altbauten hergestellt werden können. Natürlich standen wir daneben mit Erläuterungen und riefen dazu auf, sich dem Kahlschlag zu widersetzen. Der Werkbund Berlin, damals noch ganz in seiner Tradition der aufklärerischen Moderne, unterstützte uns auf Initiative seines Vorsitzenden Julius Posener mit etwas Geld, ohne das diese Aktion für uns nicht möglich gewesen wäre.

Es gab aber auch noch eine zweite Ebene der Verbindung von studentischer Stadtteilpraxis mit der Hochschule: das Bedürfnis nach theoretischer Unterbauung dessen, was wir aus Instinkt und Erfahrungsfragmenten als Ursache des Übels ausmachten. Es war die Zeit der Neuentdeckung von ‘Das Kapital’ von Karl Marx – und so richteten wir an derArchitekturfakultät einen Grundkurs zum ersten Band von ‘Das Kapital’ ein, angeleitet von einem Studenten der Freien Universität, der uns half, uns durch das ungewohnte Dickicht Marxscher Theorie zu kämpfen.

Aber das war nicht das einzige theoretische Standbein. Ebenfalls über einen Studenten der FU, den zukünftigen Stadtsoziologen Rolf Czeskleba, waren wir in unserem Kreuzberger Aussenposten auf den Umstand gestossen, dass in den USA das, was für uns in Deutschland und wohl ganz Europa so neu war, der Kahlschlag ganzer Stadtteile, dort schon seit Jahren gang und gäbe war und zu heftigen Kämpfen geführt hatte. Voller Begierde nach diesen Erfahrungen machten wir uns an die Lektüre von relevanten Aufsätzen von amerikanischen Autoren, in denen die Erfahrungen dargestellt und die Hintergründe analysiert wurden. In mühsamer Kleinarbeit übersetzten wir Texte, verbanden sie mit unseren eigenen Erfahrungen und Thesen und bündelten sie zu einem Reader mit dem Titel ‘Sanierung – für wen?’. Dieses Buch sollte in ganz Deutschland Verbreitung finden; es wurde zu einem nicht unwichtigen Einflussfaktor beim Umschwung von Kahlschlag zur Modernisierung in der Planungsstrategie der Stadterneuerung. Über Elemente eines nachhaltigen Einflusses der ’68er gesprochen…

Im Rückblick erweist sich diese Periode trotz allen Chaos als eine überaus fruchtbare Zeit. Diejenigen, die diese Zeit aktiv miterlebt haben, mögen ihre Erfahrungen wehmütig als ein einmaliges Geschenk an eine Generation betrachten und heutige Studierende ob der inzwischen wieder eng geschnürten Studienbedingungen mit Regelstudienzeit und erneutem Einzug von Professorenherrlichkeit bedauern.

Doch ist unsere heutige Situation, nun 50 Jahre danach, wirklich so weit entfernt von den Geburtswehen des Umbruchs, die wir damals erlebt haben?
Ich sehe das anders. Im Gegenteil. Ich sehe in den neuen Rahmenbedingungen, denen wir jetzt ausgeliefert sind, erste Anzeichen ähnlicher, ja selbst viel tiefgreifenderer Umwälzungen, die auf uns zukommen. Umwälzungen, bei denen gerade wir als Architekten und Stadtplaner gefordert sind.

HEUTE – die neuen Umbrüche und die Rolle von Architekten und Stadtplanern:

Wir haben es heute mit umfassend neuen Rahmenbedingungen zu tun: Globalisierung, Ressourcenverknappung, Klimawandel und seine Auswirkungen, kriegsbedingte Flüchtlingsströme und klimabedingte Völkerwanderungen in grossem Maßstab.

Doch anders als vor 50 Jahren ist eine Kritik am Neokapitalismus erwacht, die bis tief in die bürgerlichen Kreise und ihre Medien hinein wächst.
Bei vielen Menschen herrscht das Vorgefühl grosser kommender Veränderungen – bei manchen tendiert dies zur untergründigen Erwartung einer Katastrophe, bei anderen dominiert das Gefühl, am Vorabend einer neuen, hoffentlich humaneren Weltordnung zu leben, die durch ein neues Aufbegehren gegen die Flut systemimmanenter Missstände durchgesetzt werden muss.

Doch WO und WER ist der Motor dafür ? Anders als vor 50 Jahren, zur Zeit der 68er, haben die spürbar werdenden Umbrüche eine globale Dimension angenommen. Heute ist der heraufziehende Protest vielfältiger, global, nicht mehr in erster Linie vermittelt durch Hochschulen. Die Occupy Wallstreet-Bewegung, die Commons-Bewegung, die zahllosen Grassroot-Initiativen zur Lösung von Problemen von Mensch&Umwelt& Biodiversität u.a. sind über den ganzen Globus verstreut. Der „Right Livelihood Award“, der alternative Nobel-Preis, ist ein Indikator für die grosse Verbreitung und Kraft solcher Bewegungen.

Was können, was sollen Architekten und Stadtplaner in diesem Spiel bedeuten? Wie kann ein Studium darauf vorbereiten? Es geht längst nicht mehr nur um eine adäquate Ordnung einer Stadt für sich selbst. Alles, was in der Stadt, in ihren Gebäuden und um und auf diesen ihren Gebäuden geschieht, hat seine Fäden um den gesamten Globus gespannt: es ist von globalem Einfluss. Die Städte sind Umweltsünder Nr.1 – und angesichts der nun erkannten Auswirkungen von Umweltsünden auf den inzwischen so fragilen Zustand unseres Globus ist jede Entscheidung, die in der Stadt getroffen wird, von grösster Tragweite. Architekten und Stadtplaner sitzen zwar nicht an den Hebeln der Macht und der letztendlichen Entscheidungen, doch sie bereiten Entscheidungen vor, sie können das, was geschehen muss, vorsortieren, und sie sollten, sie müssen dies aus einer globalen Verantwortung heraus tun. Das erfordert neue Kenntnisse, neue Kooperationen mit neuen Disziplinen – mit solchen, die überhaupt erst vor kurzem entstanden sind, wie zum Beispiel die Vegetationstechnologie, und mit solchen, die bislang einfach noch nicht ins Blickfeld von Architekten und Stadtplanern gerückt waren, wie Biologie, Klimaforschung u.a. Das Begrünen, nicht nur von Strassenzügen, sondern auch als ganzflächige Gebäudebegrünung, hat sich als die effizienteste, preiswerteste und auch kurzfristig realisierbare Panazee im drohenden Klimawandel erwiesen. Wichtige Untersuchungen sind durchgeführt und ihre Ergebnisse in Pilotprojekten überprüft worden. Die Realisierung dessen auf breiter Ebene bedarf aber eines Umschwungs im gängigen Denken über Architektur, der viele Details in Entwurf, Technik, Instandhaltung und Pflege berührt. Solche Dinge sind bislang nur ganz rudimentär in der Lehre angekommen. Hier bedürfte es des energischen Impulses von Studierenden und jüngeren Lehrenden, die offener sind für Neues als die in altem Denken befangenen Institutionen und ihre Vertreter.

Sind also wiederum Studierende in Architektur- und Stadtplanung aufgerufen, sich in vorderster Front in die Bresche eines dringend nötigen Umschwungs zu werfen?
Seien wir ehrlich: auch vor 50 Jahren waren die Architekturstudenten nicht die Vorhut der sog. Studentenbewegung. Der Funke ist von anderen Fachbereichen, voran denen der Sozialwissenschaften, auf sie übergesprungen, sie haben ihn aufgegriffen und auf ihr Fach übertragen. So wird es wiederum geschehen.

Die Architekturfakultäten, die Studierenden und die dort Lehrenden haben damit erneut eine wichtige Aufgabe: die Anpassung von Architektur und Städtebau an die veränderten Bedingungen unter Umweltbelastung und Klimawandel. Schliesslich gehören die Städte zu den hauptsächlichen Verursachern von CO2-Emission und Umweltverschmutzung. Es geht nun darum, das Fachwissen anzureichern und umzuschichten, um eine Architektursprache und einen Städtebau zu entwickeln, der die negativen Effekte nicht nur reduzieren kann, sondern auch aktiv beitragen kann zu einer
gesamten Verringerung von Emissionen und Ressourcenverbrauch. Aus Disziplinen, die sich mit Pflanzen, Biodiversität und Wetter beschäftigen, von Vegetationstechnikern, Landschaftsplanern, Biologen bis hin zu Meteorologen sind längst Bausteine dafür angetragen worden. Sie gilt es zu integrieren in einen neuen, umweltgerechten, zukunftsfähigen Städtebau mit entsprechenden Gebäuden und Strukturen. Erste Ansätze hierzu werden von einigen Vorreiter-Städten gemacht – wie von Paris mit u.a. seinen vielfältigen Aktivitäten unter dem Motto ‘Re-inventer Paris’, und in Wien, wo ein ganzes Quartier neu gebaut wird unter dem Konzept ‚Biotope City, die dichte Stadt als Natur‘.

Bleibt einen nachdrücklichen Dank auszusprechen an Nina Gribat und ihre Mitherausgeber Philipp Misselwitz und Matthias Görlich für ihre Arbeit an ‚Vergessene Schulen‘ – gerade jetzt ein wichtiges Buch! Es trägt bei zur Erweiterung des Horizonts in den Fach-Debatten im Spiegel der damaligen Denkräume!