GRÜN HAT KEINE WIRTSCHAFTLICH GEWICHTIGE LOBBY
Interview durch Uta Gensichen für das Magazin ‚SCHROT&KORN‘ Nr. 2/2016
Uta Gensichen: Biotope City – Bedeutet das, mehr als ein paar Bäume und Hecken zusätzlich im städtischen Raum zu pflanzen?
Helga Fassbinder: Wir als Menschen sind Teil eines umfassenden Systems, das sich in Milliarden von Jahren herausgebildet hat – Kosmos genannt im ganz Grossen, System Microben, Moleküle e.a. im ganz Kleinen… Unsere Lebenswelt ist Teil dessen und sollte uns auch in der dichten Stadt dieses noch widerspiegeln. Wir brauchen Pflanzen, Blattgrün, die unsere Atemluft produzieren, Blattgrün steht wiederum in einem unverzichtbaren Zusammenhang mit anderem wie Insekten – das wiederum ruft Vögel und andere Tiere auf den Plan. Unsere urbane Umwelt kann nicht umhin, dem Raum zu geben, Flora und Fauna gehören zusammen, das ist nicht getrennt zu haben.
Uta Gensichen: Warum brauchen die Menschen mehr Grün?
Helga Fassbinder: Ganz einfach: ohne Grün, Blattgrün würden wir ersticken, eigentlich haben wir das ja schon in der Schule gelernt…wir atmen den Stickstoff aus, den die Pflanzen aufnehmen und den sie ihrerseits als Sauerstoff wieder ausatmen. Eine Symbiose. Das scheinen wir tief in unserer Seele zu wissen: der Anblick von Grün beruhigt das Gemüt, Kranke werden selbst schneller gesund, wenn sie auf Grün blicken können. Zudem hat Blattgrün die wunderbare Eigenschaft, unser Atemluft zu reinigen: die Blätter binden bei ihrem ‚Einatmen‘ Feinstoffe auf ihrer Oberfläche, die dann durch den nächsten Regen abgewaschen werden und in der Kanalisation verschwinden. Nun in Zeiten des fühlbaren Klimawandels ist aber noch eine weitere wohltuende Eigenschaft des Grün wichtig: es senkt die Temperaturen in sommerlichen Hitzewellen. Das haben schon viele Untersuchungen nachgewiesen. Und dann habe ich noch garnicht erwähnt, dass Blattgrün bei den immer häufiger auftretenden Starkregen, die die Kanalisation nicht mehr abführen kann, einen wasserzurückhaltenden Effekt hat. Retention nennt man das. Es vermindert die Gefahr von Überschwemmungen und ist die preiswerte Alternative zum Ersetzen des gesamten Kanalisationssystems mit Rohren grösseren Durchmessers – was finanziell und im Zeitaufwand eine gigantische Aufgabe wäre. Man kann sich also wundern, warum Grün nicht ein vorrangig wichtiges Element in unseren Städten ist.
Die Erklärung ist einfach:
In einer Stadt besteht ein unerbittlicher Konkurrenzkampf um Fläche. Der gut erschlossene städtische Boden ist teuer. Grün hat keine wirtschaftlich gewichtige Lobby. Also wird der Raum für Bäume und Sträucher minimalisiert. Doch in einer immer hektischeren Welt ist Grün wichtiger denn je zuvor. Für die Gesundheit und die Psyche der gestressten Stadtbewohner, aber auch ganz technisch: Zur Kühlung, zur Regenwasser-Rückhaltung, zur Reduktion der Feinstoffbelastung, die in vielen Städten die nach EU-Norm festgelegte Obergrenze erreicht oder schon überschritten hat. Das blockiert nicht selten Bauprojekte, die ja bei ihrem Genehmigungsverfahren eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchlaufen müssen und damit nachweisen müssen, dass sie nicht zu noch mehr Umweltbelastung beitragen.
Uta Gensichen: Wie sieht Ihre Stadt der Zukunft aus?
Helga Fassbinder: Meine Vision ist eine Stadt, die durchwirkt und überzogen ist von Grün. Und das wird zur Folge haben, dass wir in einer Gemeinschaft mit einer urbanen Wildnis leben: Vögel, Schmetterlinge, Eichhörnchen, das finden wir schön – neuerdings haben auch bereits Wildschweine, Füchse, Marder und Waschbären Einzug gehalten in unsere Städte. Aber auch Käfer und Spinnen leben in dieser Welt, wir werden sie entdecken und sie begreifen lernen in ihrer jeweiligen Rolle in dem Gesamtsystem, von dem auch wir ein Teil sind.
Diese Stadt wird sich nicht abgrenzen von der Natur, sondern sich begreifen als eine der vielen Erscheinungsformen von Natur – verwandt den felsigen Landschaften, die wir ja auch kennen. Bäume und Sträucher in den Strassen und auf urbanen Restflächen, Rasen zwischen den Strassenbahnschienen – all diese Elemente gibt es ja schon heute in Städten. Aber es geht noch weiter: Gebäude bieten viel Oberfläche für Grünbewuchs, auf den Dächern, an den Fassaden, auf Balkonen, auf Fenstersimsen – die Architektur muss sich darauf einstellen, Möglichkeiten für Grünbewuchs anzubieten. Auch dafür gibt es bereits schöne Beispiele…. um nur einige zu nennen: Schon in den 70er Jahren hat der Wiener Architekt Harry Glück viele seiner Bauten mit breiten Pflanzentrögen für jeden Balkon ausgestattet, auch in seiner bekannten Hochhausanlage Alterlaa verfügen die Bewohner bis in die 13.Etage hinauf über einen kleinen Balkongarten von 5 m2. In Mailand ist kürzlich ein Hochhaus von 21 Geschossen fertig geworden, Bosco Vertikale, ein vertikaler Garten: auf Balkonen sind über die gesamte Höhe des Gebäudes Bäume gepflanzt, die in den heissen Mailänder Sommern Schatten und Kühlung geben. In vielen Städten haben wir bereits sog. Baumscheibengärtchen: Bewohner begrünen das kleine Fleckchen Erde um einen Baum herum – in Paris und in Wien etwa wird das tatkräftig durch die Gemeinde unterstützt. Und Dachbegrünung ist ja mittlerweise fast schon Standard, in vielen Gemeinden sogar Vorschrift bei Neubau.
Uta Gensichen: Braucht es für Ihre Vision digitale Innovationen, Stichwort „Smart City“?
Helga Fassbinder: Ich halte es für verkehrt, einen Gegensatz zwischen Natur und smarten Technologien zu sehen. Wenn smarte Technologien nicht nur entwickelt werden, um an einem neuen Produkt zu verdienen – statt um ein Problem zu lösen (was leider nicht so selten vor kommt), dann können sie eine sehr willkommene Ergänzung zu natürlichen Lösungen darstellen. Einfaches Beispiel: die Bewässerung von begrünten Fassaden oder von Pflanzentrögen. Es gibt nun smarte Apparate, noch nicht einmal teuer, die bedarfsgerecht bewässern und damit sogar Wasser sparen. Niemand mehr muss wegen der Pflanzen zuhause bleiben oder Nachbarn einspannen. Bei vielen heutigen urbanen Problemen kann man seine Hoffnung auf die Innovation einer smarten Lösung setzen. Doch jede der smarten Technologien, die oft mit viel Werbeaufwand propagiert werden, sollte eingehend daraufhin geprüft werden, ob es nicht eine nachhaltigere ’natürliche‘ Lösung des Problems, für das sie eingesetzt werden, gibt. Schliesslich kostet jede Technologie Ressourcen und Energie – nachhaltig ist sie erst dann, wenn die Ressourcen und der Energieaufwand, die sowohl zu ihrer Herstellung als auch zu ihrer Unterhaltung notwendig sind, geringer sind als das, was eine ’natürliche‘ Lösung erfordert. Das zu beachten wird oft vergessen.
Uta Gensichen: Haben Sie eine Lieblingsstadt, in der Sie sich besonders wohlfühlen? Warum?
Helga Fassbinder: Was Städte anbelangt, da bin ich nun garnicht monogam. Ich habe meinen Lieblingsstädte und liebe jede aus einem anderen Grund: Voran Paris wegen seiner kreativen Lebendigkeit, gerade auch im Grünbereich. Man darf ja nicht vergessen, dass Paris einmal das Mekka für eine ‚grüne Rettung‘ der Lebensbedingungen von Stadtbewohnern war: ab 1853 hat Baron Haussmann in die engen, lichtlosen mittelalterlichen Gassen breite Schneisen schlagen lassen, Boulevards besetzt mit 4 Reihen von Bäumen, die heute noch die wesentlichen Luftkorridore der Stadt sind. Auch hat er die Gärten der feudalen Stadtpalais geöffnet und als öffentliche Parks zugänglich gemacht. Parks und öffentliche Gärten sind eine Leidenschaft der Pariser Stadtregierung bis zum heutigen Tag geblieben: sukzessive hat Paris bis in die jüngste Gegenwart hinein grosse und kleine neue Parks und Gärten geschaffen – und wenn es wegen des fehlenden Freiraums nicht anders ging, dann eben auf dem Dach eines Bahnhofs: für den zauberhaften Jardin Atlantique wurde der Gare Montparnasse überdeckt.
Doch ebenso liebe ich Wien, die Stadt, die immer wieder in den jährlich erscheinenden internationalen Vergleichslisten der Lebensqualität für ihre Bürger an vorderster Stelle rangiert als die am besten ausgestattete und verwaltete Stadt. In den meisten der Wiener Stadtquartiere ist eine sog. Gebietsbetreuung tätig, die für einen guten Zustand des Quartiers sorgt und bei der Bürger anklopfen können mit Vorschlägen zur Gebietsverbesserung. Gerade dadurch sind viele Grün-Initiativen entstanden: Bewohnergärten für Urban Farming, Baumscheiben-Patenschaften, Tauschmärkte für Pflanzen und vieles mehr.
Aber meinen Liebe gehört nicht nur den grossen, spektakulär schönen Städten. Ich liebe auch eine herrlich geruhsame badische Kleinstadt am Rande des Schwarzwald, ein barockes Städtchen mit einem exemplarisch schönen Stadtgrundriss, eingefügt in eine wild mäandernde Fußbiegung und dominiert von einer grossartigen Schlossanlage: Rastatt. Hier hat im vergangenen Sommer ein Storchenpaar auf einem Telegraphenmast direkt neben der Stadthalle und einer Verkehrsachse Quartier bezogen und zwei Jungen gross gezogen. Die ganzen Stadt hat gewissermassen die beiden Jungvögel adoptiert.
Bildquellen: Helga Fassbinder