DIE STADT BRAUCHT MEHR GRÜN

Interview von Wojciech Czaja mit Helga Fassbinder

 

Wojciech Czaja

Czaja: Haben Sie einen Garten?

Fassbinder: Ja, ich wohne mitten in Amsterdam, an einer Gracht, und ich habe hinter dem Haus einen kleinen Garten. Der ist zwar nur so groß wie ein Wohnzimmer, aber ich habe regelmäßig Besuch von vielen Vögeln. Ich habe hier schon 32 verschiedene Arten gezählt –von Amseln bis zu Zaunkönigen. Und hier in Wien wohne ich in einem Wohnhaus von Harry Glück. Ich habe einen Balkon und den kleinen Auersperg-Park vor mir. Die Bäume reichen bis hoch in den fünften Stock und noch höher. Es ist ein wunderbarer Ort.

Czaja: Als eine von wenigen StadtplanerInnen in Europa kreiden Sie der heutigen Stadtplanung enorm viele Fehler an. Unter anderem vertreten Sie die Meinung, dass unsere Städte zu wenig grün sind.

Fassbinder: Die Städte in Europa sind Betonwüsten. Und das, obwohl wir in unserem Kulturkreisauf eine Jahrhunderte lange Garten- und Landschaftskultur zurückblicken – von der Antike über den Barock bis hin zu den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Ich beobachte allerdings, wie sich beiden Bürgern und Bewohnern in den letzten Jahren etwas getan hat. Sie entwickeln Interesse, die Sensibilität steigt, und viele von ihnen sehnen sich nach mehr Grün in ihrem Lebensumfeld. Auch die Politik ist bereits sensibler geworden. Nicht nur die Grünen sprechen von Grün, sondern auch die Roten, Schwarzen, Blauen und Gelben.

Czaja: Und was ist mit den Architekten und Stadtplanern?
Fassbinder: Das ist der Punkt. Da geht es viel langsamer voran. Es gibt einzelne Projekte, bei denen sich Architekten eine systematische Integration von Grün ins Bauwerk getraut haben, so in Europa Stefan Boeri mit dem Bosco Verticale in Mailand oder Edouard François mit dem Flower Tower in Paris. In Paris ist geradezu eine Aufbruchstimmung in diese Richtung zu spüren, die stark von der Stadt stimuliert wird. Aber im Städtebau wird generell das Grün doch immer noch sehr stiefmütterlich behandelt.
Czaja: Warum ist die Stadt noch nicht so weit?
Fassbinder: Im Grunde ist das nicht verwunderlich – denn die systematische Integration von Grün in die Stadt und damit gewissermassen auch die Stadt als Natur zu betrachten, erfordert ein umfassendes Umdenken und auch ein Umorganisieren des gesamten Regelsystems. Das kann keine Berufsgruppe alleine stemmen. Schon garnicht die LandschaftsarchitektInnen.

Czaja: Sie wollen das nun ändern. Auf den ehemaligen Coca-Cola-Gründen in Wien-Favoriten planen Sie in Zusammenarbeit mit mehreren Bauträgern und Architekten ein Stadterweiterungsgebiet mit ausgesprochen viel Grün. Was genau soll auf diesem Areal passieren?

Fassbinder: Die Coca-Cola-Gründe sind ein 5,4 Hektar großes Areal, auf dem rund 1.000 Wohnungen realisiert werden – davon rund zwei Drittel gefördert. Anders als in bisherigen Stadterweiterungs- und Stadtverdichtungsprojekten spielt die Grünraumplanung hier nicht nur eine untergeordnete, sondern eine zentrale, ja sogar essentielle Rolle. Das Grün legt sich, wenn Sie so wollen, als größter gemeinsamer Nenner über alle Bauplätze – und somit auch über alle Teilprojekte. Es geht uns hier erstmals wirklich um die Renaturierung der Stadt, um die dichte Stadt als Natur.

Czaja: Wie kann man sich das im Detail vorstellen?

Fassbinder: In einem klassischen Wohnprojekt gibt es eine Freiraumplanung mit Wiesen, Stauden und Jungbäumen und vielleicht noch ein extensiv begrüntes Flachdach. Doch hier soll das Grün in jeder erdenklichen Form realisiert werden – als Garten, als Gstätten, als begrünte Fassade, als Atrium mit begrünten Wänden, als Pflanzentröge auf der privaten Loggia, als intensiv und extensiv begrüntes Dach und so weiter. Mein ganz persönliches Highlight ist, dass in der Biotope City zum größten Teil große, erwachsene Bäume eingesetzt werden sollen – heimische Laubbäume wie etwa Birken und Platanen. Das schafft vom ersten Tag an eine unverwechselbare Atmosphäre, die sonst erst nach zehn, fünfzehn Jahren eintritt. Vor allem aber – und das ist der technisch wichtigste Punkt – dient das Grün hier als sogenannte grüne Infrastruktur.

Czaja: Das heißt?

Fassbinder: Das Grün spielt in der Biotope City nicht nur eine ästhetische Rolle. Es ist viel mehr.
Diese Biotope City mit ihrem Grün ist eine durchdachte, leistbare Antwort auf den Klimawandel und gleichzeitig ein sinnliches Erlebnis. Sie riecht und klingt nach Natur direkt vor der eigenen Wohnung. Sie wird reich an Arten sein und sie wandelt ihre Formen und Farben mit den Jahreszeiten. Ihre Bäume und Pflanzen spenden Luft zum atmen und wirken beruhigend auf die Seele. Das Blattgrün trägt zur Temperatursenkung auf dem Areal bei, es regelt die Luftfeuchtigkeit in der warmen Jahreszeit, es hält das Wasser bei Starkregen zurück, es absorbiert Feinstaub. Ein wertvoller Einigungspunkt, über den ich mich sehr freue, ist dass gleich zu Anfang die ausgewachsenen Bäme gepflanzt werden und auch dass sogenannte Rain-Gardens angelegt werden. Das sind bewusst eingeplante Auffang- und Sickerflächen, in denen sich das Wasser bei starken Regenfällen sammelt. Nicht zuletzt sollen diese Rain-Gardens das städtische Kanalnetz entlasten, weil sie den Wasserabfluss reduzieren und verlangsamen.

Czaja: Wie soll das Wasser genutzt werden?

Fassbinder: Ein Teil davon soll als Nutzwasser für Gartenbewässerung verwendet werden. Ein Teil bleibt als wilde Gstätten erhalten.

Czaja: Reisen wir für einen Moment zehn Jahre in die Zukunft. Wie sieht die Biotope City aus?

Fassbinder: Grün! Ich sehe einen dicht begrünten Stadtteil vor mir mit Veitschi, Glyzinien und anderen Kletterpflanzen an den Fassaden, mit Flächen für Urban Gardening und einer gut vernetzten, stabilen Nachbarschaft, die Freude am Garteln und an der Pflege des Grün hat. Harry Glück hat bei seinen Schwimmbädern am Dach gesagt: Das Wasser habe eine bandstiftende Wirkung, denn in der Badehose seien alle Menschen gleich – vom Vorstandsdirektor bis zum Aushilfskellner. Beim Garteln ist es so ähnlich. Mit dem Unterschied vielleicht, dass die Wienerin von der anatolischen Immigrantin noch viel Wertvolles über Tomatenanbau lernen kann.

Czaja: Welche technischen, juristischen und logistischen Schwierigkeiten bringt die Biotope City mit sich?

Fassbinder: Eine große technische und baurechtliche Schwierigkeit ist – leider – der Brandschutz. Immer wieder wird argumentiert, dass Grün eine gefährliche Brandlast sei. Ja und nein. Efeu – um nur ein Beispiel zu nennen – hat einen hohen Ölanteil und brennt im Gegensatz zu wildem Wein relativ leicht. Daher werden wir Efeu nur punktuell einsetzen. Auch bei anderen Pflanzen muss man das Brandverhalten sehr genau differenzieren. Wir haben zu diesem Thema sogar einen eigenen Workshop mit Expertinnen und Experten veranstaltet und es werden nun in Zusammenarbeit mit der BOKU sehr komplexe Brandversuche gemacht.

Czaja: Wie schaut es mit der Ansiedelung von Tieren aus?

Fassbinder: Nun, wo Blattgrün ist,  siedeln sich auch zwangsweise  Insekten und Vögel an. Flora ohne Fauna geht nicht. Das ist eine wertvolle Symbiose und muss bei der Planung entsprechend mitberücksichtigt werden. Diese Komplexität im Blickfeld zu behalten ist eine meiner Aufgaben und Kompetenzen, denn selbst bei den Biologen und Landschaftsplanern ist jeder auf sein kleines Pflänzchen spezialisiert, sieht dabei aber nicht die Konsequenzen. ! Wenn Sie mich fragen: Die Biotope City wird ein Stadtteil mit einigen Millionen Bewohnern werden!

Czaja: Wie sieht die Zusammenarbeit mit den Architekten und Bauträgern aus? Allein, wenn ich an die begrünten Fassaden denke, ergeben sich hier ja zwangsweise Schnittstellen, die man bei einem klassischen Projekt nicht hat.

Fassbinder: Genau so ist es. Manche Planer und Errichter tun sich leichter, mit Biologinnen, Wasserwirtschaftern, Kulturtechnikern und Landschaftsarchitektinnen zusammenzuarbeiten und sich bei der eigenen Arbeit ein bisschen reinpfuschen zu lassen – andere tun sich schwerer. Tatsache ist: Hier gibt es nicht nur kollaborative, sondern auch technische Schnittstellen, die von Anfang an Millimeter für Millimeter mitgeplant werden müssen. Da muss an ganz vielen Schräubchen gedreht werden. Das funktioniert nicht zuletzt auch deshalb gut, weil wir hier eine interdisziplinäre wissenschaftliche Projektbetreuung haben. Ich glaube, man kann sagen, wir haben die Komplexität gut im Griff, die Kommunikation mit den Experten funktioniert sehr gut.

Czaja: Wie wird dieser Mehraufwand finanziert?

Fassbinder: Das Ganze läuft als Forschungsprojekt und wird mit 100.000 Euro finanziert. Wir haben jetzt weitere 300.000 Euro für weitere drei Jahre beantragt. Sinn und Zweck dieses Projekts ist ja, am Ende eine Betriebsanleitung zu bekommen, wie so ein Stadtteil, wie so ein grüner Ansatz auch anderswo realisiert werden kann. Dazu braucht es objektive Aussagen und eine entsprechende Dokumentation in Form eines Forschungsberichts.

Czaja: In der Regel geben Bauträger zwei bis drei Prozent der Baukosten für die Freiraumanlagen aus. Wie groß ist der Anteil in der Biotope City?

Fassbinder: Genauso hoch. Keinen Cent mehr. Es ist nur ein Umdenken und Paradigmenwechsel in der Planung.

Czaja: Das geht sich aus?

Fassbinder: Ja. Das Geheimnis ist: Es gibt – wie überall auf der Welt – auch in der Landschaftsarchitektur Trends und Moden. Und diese Trends und Moden sind teuer. Wir greifen, wenn Sie so wollen, auf die Vorjahrskollektion zurück, die längst out ist, und können das Projekt auf diese Weise gut finanzieren.

Czaja: Welche Auswirkungen wird das Projekt kurz- und mittelfristig auf die Wiener Baukultur haben?

Fassbinder: Hoffentlich einen sehr großen! In vielen Städten herrscht ein richtiger Backofen-Effekt im Sommer. Studien haben ergeben, dass man mit zehn Prozent mehr Grün – und das ist gar nicht so viel – die sommerliche Temperatur in den Städten um drei Grad Celsius senken kann.
Mit einer Computer-Simulation der Effekte der Begrünung in der Biotope City, die das Burau Green4Cities entwickelt hat, können wir darstellen, dass die gefühlte Temperatur im Aussenbereich selbst bei moderaten Begrünungsmassnahmen an den meisten Stellen von über 40 Grad Celsius auf unter 30 Grad gesenkt wird. Bei noch etwas mehr Grün wird das nahezu durchgängig im Freiraum der Fall sein.
Mehr Grün in die Stadt ist ein relativ simples und kostengünstiges Mittel, um die Probleme zu mildern, die der Klimawandel uns beschert !

Czaja: Klingt überzeugend. Warum macht man das nicht öfter?

Fassbinder: Unbekanntes Terrain! Das ist das allergrößte Problem. Es gibt einen Wust von Paragrafen, Bauvorschriften und Haftungsfragen sowie eine gewisse Angst und fehlende Erfahrung bei Architekten, Bauträgern und in den Behörden. Das Neuland will noch erforscht werden. Genau das ist die mittel- und langfristige Aufgabe der Biotope City. Sie ist gewissermassen das Demonstationsobjekt.

Czaja: Wie lautet Ihr Appell an die Stadtplanung und Politik?Fassbinder: Ich wünsche mir generell mehr Offenheit und Weitsicht. Ich wünsche mir, dass die Stadtplanung erkennt, dass eine engagierte und ambitionierte Grünraumplanung die eiegerlegende Wollmilchsau ist, die viele unserer städtischen, mikroklimatischen und auch sozialen Probleme erheblich mildern kann.

Czaja: Und an die Bauwirtschaft?

Fassbinder: Trauen Sie sich! Machen Sie! Sie werden sehen: Grössere Wohnzufriedenheit, viel weniger Mieterwechsel – und das spart viel Geld.

Czaja: Wie sieht die Stadt der Zukunft aus?

Fassbinder: Ich träume von einem grünen Großstadtdschungel. Ich wünsche mir eine Stadt, in der es mehr Bäume als Autoabstellplätze und mehr Sicht auf Grün als auf Beton gibt. Grün muss ein selbstverständlicher Baustein der Architektur werden. Und wenn man bedenkt, dass jede Flora auch Fauna mit sich zieht, dann kann ich sagen: Die Stadt braucht mehr Krabbeln und Kriechen. Diese Stadt wird ein Vielfaches spannender sein!

 

Mit Dank an WOHNENPLUS Fachmagazin der Gemeinnützigen Bauvereinigungen – erschienen in WOHNENPLUS – 2|2017

Abbildungen: © Helga Fassbinder, MA 48 (1)