50 Jahre ARCH+ Rückblick & Ausblick.

eine Rezension

Die Zeitschrift ARCH+ feiert in diesem Jahr ihr 50jähriges Bestehen. ARCH+ ist einmal gegründet worden als kritisches Gegenprogramm zu den gängigen Zeitschriften für Architektur und Stadtplanung, in denen die Berichterstattung über neue Projekte und neue konzeptionelle oder technische Details die Blätter füllten. ARCH+ sollte hinter die Koulissen schauen, Analysen der Wirkungskräfte bringen, die diese Projekte entstehen liessen und geformt haben. Eine kritische Zeitschrift mit dem damals explizit formulierten Ziel, den Beitrag von Architektur und Stadtplanung für gute Lebensbedingungen einer menschlicheren Gesellschaft herauszuarbeiten und zu unterstützen. Damals vor 50 Jahren nannte man solch eine menschlichere Gesellschaft ‚demokratischen Sozialismus‘. Lassen wir einmal diesen Begriff, der nach dem Fall der Mauer in der Mottenkiste verschwunden ist, weg und fokussieren uns lediglich auf das Ziel einer menschlicheren Gesellschaft und stellen wir die Frage aufs neue: Wird ARCH+ der Zielsetzung, einen Beitrag für menschlichere Lebensbedingungen in der gebauten Umwelt zu liefern, gerecht? Leistet die heutige ARCH+ dazu einen Beitrag? Einen Beitrag mit einerseits kritischen Analysen der Rahmenbedingungen des Produktion der gebauten Umwelt und andererseits mit der Präsentation von Schritten auf dem Wege dahin, also mit Projekten, Techniken und Verfahren zur Realisierung dieses Ziels?

ARCH+ hat sich in den 50 Jahren seiner Existenz exzellent entwickelt, die Hefte sind beeindruckend. Von allen Seiten Lorbeeren! Insbesondere die Nummer über ‚Rechte Räume‘, die ich – dank des CORVID-19-Zeitstops – nun endlich ausführlich lesen konnte, wird dem gerecht mit u.a. einer längst überfälligen Kritik an einigen Heroen der deutschen Architekturgeschichte. Doch solche kritisch-analytischen Beiträge würde ich mir mehr und noch tiefer greifend wünschen.

Architektur und Stadtplanung haben sich in jeder Hinsicht in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert, sowohl in der Organisationsform der Büros, als auch in der Struktur der Auftraggeberschaft und der Bauindustrie und nicht zuletzt auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Bedeutung von Architektur und Design – und dies alles vor dem Hintergrund der grossen Veränderungen der Umweltbedingungen wie Klimawandel und Ressourcenverknappung. Doch insbesonders der Klimawandel und der extensive Ressourcenverbrauch, nicht erst Phänomene der allerletzten Jahre, haben im Bau nur begrenzt Resonnanz gefunden und zu wirklich effizienten Lösungen dieser brennenden Fragen geführt. Warum? Wie anders? Ein weites Feld für tief schürfende kritische Analysen, das weitgehend brach liegt.

Die ein halbes Jahrhundert zurückliegende Zielvorstellung von ARCH+ als einer kritisch-analytischen Zeitschrift für Architekten und Stadtplaner war sicherlich eine etwas einseitige Sache, geschuldet einem immensen Erkenntnisdefizit auf dem Gebiet von kritischer Theorie. Sie liess die Frage nach Design, nach Formgebung, weitgehend ausser acht. Doch wären derartige Analysen wenigstens als eine der Sparten der Publikationsstrategie der heutigen ARCH+ nicht unbedingt notwendig? Immer noch werden repräsentative Paläste mit einem immensen Verbrauch an Energie und Material gebaut. Bauten für eine Welt, in der das Recycling van Material Ausgangpunkt ist, sind immer noch nur in Ausnahmefällen zu finden. Dem Klimawandel wird mit Wärmeisolation begegnet, als ob die Menschen sich in Zukunft nur noch innerhalb der Bebäude würden aufhalten und man Hitze aussperren könne aus der menschlichen Lebenswelt. Etc., etc… Wo sind die Analytiker, die Fachleuten unter den Architekten und Stadtplanern, die messerscharf die Phänomene sezieren, die die grossen Fragen nach den Ursachen dieser Trägheit in ihrem Fach stellen und dem Problem auf den Grund gehen, warum adäquate und effiziente Antworten nur so unzureichend formuliert werden – und sofern Elemente dazu auftauchen nur in so seltenen Fällen realisiert werden? Ein brach liegendes Feld für eine Fachzeitschrift, die sich eine menschen- und umweltgerechte gebaute Lebenswelt zum Ziel gesetzt hat.

Architektur und Stadtplanung sind hochkomplexe Angelegenheiten, es bedarf eines Kollektivs von unterschiedlich interessierten und qualifizierten Spezialisten, um sie in der gesamten Breite zu beleuchten, sodass nicht einseitig Akzente gelegt werden, die verschleiernd wirken, mehr noch: die blind machen für Auswirkungen der gebauten Umwelt auf Mensch und Gesellschaft, dieses immer noch weitgehend ungelüftete Wechselspiel. Und die blind machen für die Auswirkungen auf die Natur. Letzteres, das Wechselspiel mit der Natur ist in meinen Augen unter den heutigen Bedingungen einer weltweiten Überlastung von ‚Gaia‘, um Lovelocks Bild zu gebrauchen, ein ganz zentrales Thema. Vor 20 Jahren habe ich den Begriff und das Konzept Biotope City entwickelt als Vision einer Stadt im Einklang mit den naturgegebenen Rahmenbedingungen unseres Sein in dieser Zeit. Dabei geht es um die Schaffung einer dicht bebauten Lebenswelt in unserer dicht bevölkerten Welt, die auch in der Stadt selbst den Regenerationskräften der Natur hinreichend Raum lässt – zu beidseitigem Nutzen. Das Konzept wird nun in der Biotope City Wienerberg in einem ersten grossen Anlauf in die Wirklichkeit gebracht, Pilotprojekt der IBA Wien 2022, hochverdichtet mit 1.000 Wohnungen, Wohnfolgeeinrichtungen, Schule, Hotel, Büros, autofrei und begrünt nicht nur im gesamten Aussenraum, sondern auch an und auf den Gebäuden. Ein neues Stadtquartier auf dem Weg zu einem neuen Verhältnis von Mensch und Natur.

In den 80er Jahren wurde einmal der Begriff Stadtökologie gefunden im Versuch einer umfassenden Sichtweise auf die gebaute Umwelt und das Verhältnis von Mensch und Natur. Seither gibt es das Spezialfach Stadtökologie  – und es git die Stadtökologen, die aber nicht vom Bauen kommen, sondern aus der Biologie, und die bei Bauprojekten nur als Randerscheinung auftreten dürfen. Ist bei ARCH+ Stadtökologie über ein disziplinäres Thema unter etlichen anderen, dem man auch einmal ein Heft widmet, hinausgekommen? Hat man verstanden, dass unser gesamtes Planen und Bauen sich wieder ins Verhältnis setzen muss zu den regenerativen Bedingungen der Natur, dessen Teil wir sind? Dass die Architektur-Diskussion einem neuen aktuellen kritischen Layer unterzogen werden muss? Dabei geht es nicht um einen naiv-romantischen, sehnsüchtigen Blick.

Es geht um neue Anforderungen an die Konstruktion unserer gebauten Umwelt, die sowohl die Verwendung avanciertester Technologien als auch diese Technologien selbst und die gesamte Bauproduktion einbettet in ein umfassendes Recycling – und dies in Interaktion mit Natur.

Das bedeutet einen neuen Blick auf Architektur und Städtebau, der nicht nur Planung und Produktion in ihrer technischen, ökonomischen und sozialen Dimension umfasst, sondern umfasst ebenso die Ästhetik von Architektur und Städtebau. Ich will es zusammenfassend so formulieren:

Wir stehen am Beginn einer neuen Form von gebauter Umwelt und einer neuen städtebaulichen und architektonischen Schönheit, bei der Stadt und Natur in einander fliessen, einander überlappen. Ich würde mir wünschen, dass ARCH+ dazu einen vorwärtsweisenden Beitrag liefert.